Schadewaldt
Nun, heute wissen wir, daß die Griechen selbst das "Paradeigmatische", das sie überall verfolgten, durchaus nicht in dem Sinne verplichtender Vorbilder und Muster gefaßt haben, sondern in dem Sinne von Modellen, die ihrem Wesen nach gerade nicht zu enger Nachahmung verbinden, sondern vielmehr auffordern zu schöpferisch-sinngemäßer Fortgestaltung. In Gestaltungen der Kunst, des Wortes und des Gedankens haben die Griechen höchst instruktive Modelle des Seienden hingestellt: Modelle des Kosmos und fast aller Erscheinungsformen des Seins in der Natur, Modelle vom Menschen mit Leib und Seele, Denken, Staat, Schicksal, Modelle des Übersinnlichen und Göttlichen. Vor allem vermöge dieser ihm tief im Wesen liegenden Modellgestaltung hat das Griechentum so produktiv, traditionsbildend auf das spätere Europa gewirkt. Und diese zu sinngemäßer Fortgestaltung aufrufenden Modelle der Griechen eben sind es, die heute den Naturforscher so gut wie den Dichter zu den Griechen ziehen. Nicht "Regeln" gibt die Antike, sie gibt richtungsweisende Impulse.
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Das Griechentum ist (...) die Entelechie Europas, nämlich die lebendige geprägte Grundform, die sich (so wie mannigfach in der Natur) in ständiger Metamorphose verwandelt und durch alle ihre Verwandlungen hindurch gerade beharrt. — Suchen wir uns heute dieser lebendigen griechischen Grundform und ihrer Elemente neu zu vergewissern, so geht es dabei um alles andere als um das Abstauben irgendeiner "Vergangenheit". Es geht dabei um den Gewinn einer echten Gegenwärtigkeit. Mit einem bloßen Bejahen des Tages, einem frischfröhlichen Zukunftswollen ist man nict eigentlich gegenwärtig, sondern nur zu oft lediglich ephemer.
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In diesem Sinne aber ist die produktive Rechenschaftsabgabe über die griechische Entelechie unserer europäischen Kultur, das Herauserkennen jener griechischen "Zettel" in unserem Kulturgewebe, ein Erfordernis unseres kulturellen Selbstverständnisses und damit Erfordernis von etwas, was uns gerade heute so bitter nötig ist: Orientierung unser selbst in unserer hinreißenden Zeit. Es geht für jeden, der in seiner Zeit steht, darum, daß er wirklich stehe in seiner Zeit, und nicht bloß hörig ist und "folgt", sondern sie zu seinem Teil gestaltet, meistert. Dieses verlangt eine Freiheit, die sich neben jene anderen heute mit tiefem Rect proklamierten Freiheiten stellt, die Freiheit vom Hunger, von der Angst, Freiheit des Wortes und des Glaubens: ich meine die zusätzliche Freiheit von der Zeit, die auch erst recht Freiheit zur Zeit ist. Diese Freiheit ist das Wesen der "Bildung", wie wir das Wort heute zu verstehen haben.
Schadewaldt, W. "Heimweh nach Hellas heute?" (1958) in: Hellas und Hesperien II, Zürich 1970.
Jesenje boje na flickru: T Hall.
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